Interview von Jonas Lismont, Redakteur des französischen Online-Journals AETHER mit Robin Schmidt
Wieso war es Dir wichtig, 2017 ein Buch über das Thema Gastfreundschaft zu veröffentlichen?
Gastfreundschaft – die Freundschaft, die zwischen dem Fremdem und einem Gastgeber entsteht – erscheint mir seit einigen Jahren als eine besondere Zukunftskraft. Als im Sommer und Herbst 2016 die weltweiten Migrationsbewegungen in Europa so deutlich in die Sichtbarkeit traten und Gastfreundschaft sowohl mit Füssen getreten als auch in beeindruckender Weise praktiziert wurde, nahm ich mir vor, unter diesem Gesichtspunkt einige Gedanken dazu zusammenzufassen, die mich schon länger beschäftigt haben. «Gastfreundschaft» als ein Denkbild scheint mir viel beitragen zu können auch zu anderen drängenden Fragen der Gegenwart, insbesondere zur Frage der Digitalisierung.
Welche Rolle spielt Gastfreundschaft für den heutigen Menschen? Inwiefern hängt sie mit Herausforderungen wie z.B. Massenmigrationen und Industrialisierung/Digitalisierung zusammen?
Mir scheint die Kraft der Gastfreundschaft eine Möglichkeit zu sein, anders mit den heutigen Herausforderungen umzugehen, insbesondere, sie anders zu verstehen – und dadurch auch zu anderen gesellschaftlichen, kulturellen und spirituellen Gestaltungen zu kommen. Gastfreundschaft führt das Individuum über sich hinaus und öffnet es im Hinblick auf ein Anderes. Sie fragt danach, das Andere als dieses einzigartige Andere in seiner ganzen Weise des Erscheinens auf- und anzunehmen. Sowohl Digitalisierung wie Massenmigration stellen das in Frage und verlangen genau danach.
Es scheint ziemlich einleuchtend zu sein, wieso Gastfreundschaft wichtig ist, wenn es um Migration geht. Wieso ist sie auch zentral im Kontext der massiven Digitalisierung unserer Gesellschaft? Wir stehen ja nur am Anfang davon. In einer gewissen Weise sind wir als Menschen schon durch Technologie «erweitert». Heißt es, dass wir uns als durch Technologie erweiterte Menschen akzeptieren müssen?
Ich verstehe den Digitalen Wandel nicht in erster Linie als ein technologisches Problem. Wie bei der Industriellen Revolution und der Moderne sind die Maschinen ein wichtiger bedingender Faktor. Doch die eigentlich aufgeworfenen Fragen sind gesellschaftliche, politische, ökonomische und spirituelle, aber insbesondere die Frage: Was ist der Mensch? Wie die Industrialisierung die Grossstadt als Lebenswelt hervorgebracht hat, bringt das Digitale eine eigene Lebenswelt hervor, die, wenn man in ihr beginnt zu leben, neue Herausforderungen für das Menschsein mit sich bringt. So wie die Grossstadt die Einsamkeit, den Verlust von Naturverbundenheit und Religion mit sich brachte, bringt die jetzt entstehende Lebenswelt einen Verlust der Beziehung zum Anderen mit sich. Die Algorithmen erzeugen die «Filter Bubble»: wir sind nur mit dem umgeben, was wir schon kennen und was uns gefällt. So entsteht der Blick auf das Fremde, Andere nicht mehr von selbst. Dieser wird zur kulturellen Hervorbringung des Menschen. Was Kritiker und Enthusiasten der Digitalisierung oft nicht sehen: dass das Problem der Technik nicht auf technische Weise gelöst werden kann – weder durch Verbannung der Geräte noch durch Angleichung des Menschen an sie – sondern nur durch eine Kultur. Das sind Gründe, warum ich Gastfreundschaft für ein zentrales Motiv für eine Kultur der digitalen Lebenswelt halte.
Wie werden «Ich» und «Du» durch Gastfreundschaft neu definiert?
«Ich» und «Du» wurden im 20. Jahrhundert insbesondere unter der Differenz von Individuum und Gemeinschaft verstanden. Das Ich wurde als etwas begriffen, das sich dadurch findet, dass es sich von der Gemeinschaft emanzipiert und dann versucht einen Zusammenhang zum Allgemeinen zu finden. Ich denke, das «Ich» kann nicht definiert werden: es ist kein Begriff, dessen Inhalt schon gegeben ist und durch Abgrenzung gefunden wird. Aber das «Ich» ist jene Kraft, die sich selbst eine Bestimmung geben kann. Gastfreundschaft ist eine Gegenbewegung zu Emanzipation, setzt diese aber voraus: Gastfreundschaft ist eine freiwillige, temporäre und doch verbindliche Beziehung auf ein Fremdes, über das ich nicht verfügen möchte. Das «Du» ist hier nicht das, womit «Ich» in einer Einheit verbunden bin, sondern das, was durch den Bezug auf den Abstand zwischen zwei «Ichen» möglich ist, das anwesende Dritte, das eine Spur, ein Geflecht, ein noch nicht in der Welt Vorhandenes zeichnet, weil es erst durch die wechselseitige Beziehung da ist und dann etwas in die Welt einschreibt, von dem man sich überraschen lassen kann. Das «Du» ist das Element der Freundschaft in der Gastfreundschaft.
Was wäre eine Welt (oder ein Mensch) ohne Gastfreundschaft?
Sie wäre in einem nicht aufhörenden Kampf gefangen, in dem sich das Individuum gegenüber der Gemeinschaft durchsetzen möchte, die Gemeinschaft aber ihre kollektive Gewalt über das Individuum ausüben muss, um das Zusammenleben ihrer Angehörigen gegenüber den Bedrohungen der anderen Gemeinschaften zu sichern.
Wie hängt Gastfreundschaft als Fähigkeit mit einer spirituellen Schulung zusammen, wie sie insbesondere Rudolf Steiner beschreibt? Lässt sich Gastfreundschaft üben?
Gastfreundschaft kann auch gegenüber einer Idee, ja gegenüber einem Göttlichen gelebt werden. In meinem Buch schreibe ich über Meditation im Sinne einer gastfreundschaftlichen Beziehung gegenüber dem Geist. Geist ist, mit Hegel und Steiner gesprochen, das Erleben, dass mein Denken freiwillig ein Anderes in sich aufnehmen und leben lassen kann. Ich werde zum Gastgeber dessen, was in mir lebt und gebe den Schauplatz ab, auf dem das Andere sich in seiner Eigenart zeigen und mir mitteilen kann. Ich verstehe die von Rudolf Steiner beschriebenen Erkenntnisstufen von Imagination, Inspiration und Intuition als verschiedene Schichten gastfreundschaftlicher Beziehung zu einem Geistigen. Gastfreundschaft ist, meine ich, eine Kraft, die grundsätzlich heute im Menschen vorhanden ist. Sie mag verschüttet sein, aber ich habe erfahren, dass in einer Meditation im Steiner’schen, europäischen, Verständnis, die vom Verstehen ausgeht und dies vertieft und in ein Erleben erweitert, Gastfreundschaft als Kraft in einer Weise entdeckt werden kann, die sie für meinen Beruf, für den Alltag, für die anderen Menschen freilegt.
Was würde es heißen, innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft eine Kultur der Gastfreundschaft zu entwickeln?
Es würde weniger um Rechthaben und weniger um den Versuch gehen, eine Gemeinschaft zu erleben, deren Mitglieder sich durch Ähnlichkeiten von Ansichten verbunden erleben. Es würde zunehmend um ein Staunen gegenüber dem gehen, was der andere zu sagen hat, wenn er von mir das Ohr geliehen bekommt, zu versuchen das Unsagbare auszudrücken, was ihm im Herzen lebt. Da ist man weder verschieden noch ähnlich, sondern einzigartig. Und die Freude, die dabei entsteht, wenn das hervortritt, die könnte künftig mehr verbinden, könnte eine Spur legen, könnte ermöglichen, dass man gern zusammenkommt. Das ist etwas, was meines Erachtens immer gemeint war, aber mir doch wie ein Kommendes aus der Zukunft erscheint. Ich glaube aber, dass man das nicht entwickeln kann: denn es ist da, es möchte nur gesehen werden.
Das Interview führte Jonas Lismont.
Erschienen Anfang April 2017 auf Französisch auf https://aether.news