Gastfreundschaft – Erzählung als Ursprung von Gesellschaft

In dem Moment, da das Andere  als Antlitz erscheint, ist es bereit zur Ansprache. Wenn ein Antlitz zur Ansprache bereit ist, wird aus dem Sehen Blick. Ein Blick ist das Offene, das man nicht anschaut, sondern empfängt. Er ist ein Offenes, in das man hört: ein Blick sagt mehr als tausend Worte.

Der Raum der unmittelbaren Ansprache ist der Raum der Freundschaft. Freundschaft setzt Fremdheit voraus. Erst aus Fremdheit kann Freundschaft werden. Wenn man schon immer eins ist und sich nie fremd war, kann man intime Gemeinschaften bilden, sich aber nicht Freund sein. Freundschaft ist ein bedingungsloses «Ja» zur Andersheit des Anderen, das erst nach der Geburt des Blicks möglich ist. Ein Freund ist nicht das glatte Ebenbild meiner selbst, nicht das externalisierte Alter Ego, in dem ich mich selbst spiegele, sondern der Blick eines Anderen auf mich, der mich herausfordert. Er fordert mich heraus, aus meiner Maske der Intimität, über den Glanz der Oberfläche hinaus. Er fordert mich aus mir heraus und bittet mich in sich hinein. Er lädt mich ein, zu sich, in sein Haus. Der wahre Freund ist ein Gastfreund, der mich herausfordert und hereinbittet.

In der Gastfreundschaft kommt der Gast nicht nur «zu mir», er überschreitet die Schwelle meines Hauses und tritt ein, tritt in mich. Der gute Gastgeber befreit den Gast von der Last seiner Fremdheit, ohne sie zu zerstören. Sie muss bestehen bleiben, sonst macht er den Gast zu seinesgleichen. Umgekehrt legt der Gast nicht seine Fremdheit ab, um sich gänzlich einzufügen, sonst entzieht er dem Gastgeber sein Gastgeschenk: seine Fremd- und Andersheit, die er mit ins Haus gebracht hat, um sie dem Gastgeber mitzuteilen. Es ist die mitgebrachte Fremde und Andersheit, die die Existenz des Gastgebers erweitert, und es ist die Gastfreundschaft, die den Schmerz der dauernden Fremdheit des Gastes lindert.

Hier, am Ort der Gastfreundschaft, ereignet sich die Ansprache. Das kann nur dasjenige Selbst, das zum Anderen als anderem kommt. Das andere Selbst hört das Andere selbst.

Was es hört: es ist ein unsprachliches Ereignis, das nicht gesagt, nur erzählt werden kann. Dann erzählt man von einem Gespräch. Hier hat die Erzählung – die von der Postmoderne destruierte – ihren ursprünglichen Ort, von hier kann sie immer neu gewonnen werden: als Erzählung dessen, was sich im Gespräch ereignet hat.

So wird am Ort der Gastfreundschaft die Erzählung geboren. Die Erzählung ist so die Sprache, die die Singularität des erfahrenen anderen Selbst in Raum und Zeit einschreibt. Ihre Schrift, die Schrift der Erzählung, ist die Lebensschrift, die Biografie: mein durch den Anderen verändertes Leben ist diese Erzählung.

Daher irrt Giorgio Agamben, wenn er, wie in „Die Erzählung und das Feuer“, die Erzählung gegen das Feuer – als Metapher für das lebende Geheimnis – ausspielt: „Wo es Erzählung gibt, ist das Feuer erloschen, wo ein Geheimnis weht, kann es keine Erzählung geben.“ (S. 13)

Der Gast kann nämlich am nächsten Tag als ein Anderer weiterreisen: durch den Empfang, den der Gastgeber bereitet hat, ist er ein anderer geworden, so wie der Gastgeber ein anderer geworden ist, dadurch dass er das Andere empfangen hat. Gastfreundschaft, wie es Derrida formuliert: «Der Gast wird zum Gastgeber des Gastgebers.» («L’hôte devient l’hôte de l’hôte», Von der Gastfreundschaft, S. 90) Das Ereignis der Gastfreundschaft befreit vom Zwang der Identität.

Gelingende Gastfreundschaft hängt von einer Form von Ökonomie ab, die nicht darauf basiert, ob ich es mir leisten kann, von anderen unabhängig zu sein. Gastfreundschaft ist eine Haushaltung von Innen und Außen, Nähe und Ferne, des Zeitmaßes: wie lange und in welcher Qualität der Zeit, von Haushaltung der Intensität – der Ansprache und der Ansprechbarkeit.

Ein Zusammensein von Gastfreunden ist temporär, es bindet die Anderen nicht ein, um Ziele einer Gemeinschaft zu erfüllen, sondern sie befreit sie, damit diese ihre Wege besser gehen, ihr Leben besser leben, ihre Lebensschrift besser erzählen können. Sie bringt gewissermassen Gesellen hervor, die die traute Werkstatt eines Meisters verlassen haben und als Fremde der Gastfreundschaft in der unbekannten Ferne vertrauen, um am Anderen zu wachsen. Der geteilte Ort der Gesellen ist die Gesellschaft.

Eine Gesellschaft erhält ihr Leben so von dem, was in der Erzählung geteilt wird. In der Moderne hatte die Geschichte die Funktion (der Suche nach) dieser geteilten Erzählung. Die Postmoderne hat sie dekonstruiert, und die Erzählung von der Dekonstruktion an diese Stelle gesetzt. Meine Vision für eine Kultur einer Digitalmoderne besteht in dem Versuch, den Ort aufzusuchen, an dem die Erzählung selbst entstehen kann: die Untersuchung der Bedingungen der Möglichkeit gelingender Gastfreundschaft.

 

Literatur:
Agamben, Giorgio (2017): Die Erzählung und das Feuer (=S. Fischer Wissenschaft), Frankfurt am Main.
Derrida, Jacques (2007): Von der Gastfreundschaft (=Passagen Forum), Wien, 2. Aufl.
Schmidt, Robin (2017): Orte der Geistesgegenwart: Essays über Gastfreundschaft.

 

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