Das Modell heutiger Identitätsbildung ist das Nach-Hause-Gehen. Das Glück wird da gesucht, wo ich – befreit vom Ballast des Fremden – Erlebnisse haben kann ohne verändert zu werden, wo ich bei mir bin, ohne noch fragen zu müssen, wer ich bin und wo Irritationen, die diese Frage evozieren könnten, umgangen werden können.
Es ist eine Hans-im-Glück-Identität.
In dem Märchen aus tauscht Hans seinen Lohn für sieben Jahre Arbeit in der Fremde – fern von dem Heim und der Mutter – ein kopfgrosses Stück Gold auf dem Weg nach Hause gegen ein Pferd, weil es ihm zu schwer zu tragen wird. Bald darauf tauscht er das Pferd gegen eine Kuh, weil diese ja Milch geben kann, die Kuh gegen ein Schwein, das Schwein gegen eine Gans und schliesslich die Gans gegen einen schäbigen Schleifstein. Er sieht sich im Glück: «alles was ich wünsche, trifft mir ein, wie einem Sonntagskind.» Bis ihm schliesslich auch der Stein noch in einen Brunnen fällt und er, befreit von aller Last, beschwingt und glücklich nach Hause zu seiner Mutter kommt. «So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne.»
Hans tauscht das Gold gegen zunehmend wertlose Dinge, die ein Zukunftsversprechen in sich tragen und zugleich für den Moment von einer Last befreien. Der Gewinn des Goldes – wie der Gewinn des Selbst – geht dagegen mit Fremdheit, Einsamkeit, Unvorhersagbarkeit, dem Ertragen von Andersheit und der Unumkehrbarkeit einher. Es ist das unumkehrbare Leben im Anderen, das das Gold hervorbringt. Zugleich hat das Gold seinen Wert nicht aus einem Zukunftsversprechen, sondern in dem Glanz seiner Gegenwart, der aber schwer zu tragen ist.
Hans kehrt aber um, geht nach Hause. Die Fremde und der Lohn der Arbeit dort wird für den Nach–Hause–Geher zur Last. Am Ende kommt er mit leeren Händen heim, entledigt von der Last der Frucht seiner Arbeit in der Fremde. Und ist glücklich.
Es ist jene Identität der Unberührtheit mit Andersheit, der «Reinheit», eine Identität des der Sich-selbst-gleich-Seins, die Identität der «Identitären», der Fremdenfeindlichen, aber auch das Glück jener, die ganz in der eigenen Filter-Bubble aufgehen und es überall auf den Applaus der ohnehin schon zu ihnen Gehörigen anlegen. Das Selbst gegen ein greifbares Äquivalent einzutauschen ist eine momentane Entlastung, ein kurzes Glück, während dem man vermeintlich mit etwas identisch ist. Identität ist ein Rausch, eine Selbst-Auflösung, ein Ablegen der nicht zur vollen Klarheit fähigen opaken Ambivalenz, die das Lebenselement des Selbst ist.
Das Selbst aber – im Unterschied zum Ego – erwacht Angesichts des Anderen: des anderen Menschen, des Anderen der Natur, des Geistes, des Göttlichen – und Angesichts des ganz Anderen, des Todes. Dieses Selbst ist zunächst «zum Schweigen verurteilt», wie Franz Rosenzweig in «Der Stern der Erlösung» (S. 88) schreibt. Es kann sich nicht mitteilen, als das was es (schon) ist. Es muss schweigen, weil die existenzielle Sprache zunächst auf die Reproduktion, auf das ‹Ich bin ein …› zurückgreifen muss, das dem Selbst aber nicht gerecht wird, da es erst aus dem Verhältnis zur Zukunft hervorgeht. Es muss warten, bis es aus der ‹Nacht der personalen Identität› (Paul Ricœur) erwacht. Es kann sich selbst weder sprachlich noch begrifflich unmittelbar vermitteln, da Sprache und Begriff, wo sie keine Dichtung sind, zurück in Äquivalenz-Relationen gravitieren.
Vor dieser klaren, harten Sprache der Äquivalenz hat sich der Dichter seit jeher gefürchtet, weil sie den Gesang der Dinge zerstört: «Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort./Sie sprechen alles so deutlich aus/…Die Dinge singen hör ich so gern./Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. …» (Rilke, 21.11.1898)
Beginnt das Selbst dennoch aus sich zu sprechen, entsteht eine unvergleichliche Nähe. Sie besteht darin, so Franz Rosenzweig, dass das eigene Selbst durch die Sprache des Selbst des Anderen geweckt wird: «Das Selbst ist das, was im Menschen zum Schweigen verurteilt ist und dennoch überall sofort verstanden wird. Es braucht bloß sichtbar gemacht, bloss ‹dargestellt› zu werden, um in jedem andern gleichfalls das Selbst zu erwecken.» (S.88)
Diese gegenläufige Bewegung scheint dem Selbst innezuwohnen: Dass es nicht sagbar ist, weil es sich jeglicher Äquivalenz, jeder Gleichheit – auch der idealistischen Gleichheit gegen sich selbst – entzieht und daher immer das Schweigen vorzieht, in dessen intimer, dunkler Sprache es bei sich ist und sich selbst zumindest teilweise verständlich ist.
Wenn das Selbst sich aber aus dieser inneren Sprache in seiner ganzen Fragilität sich aus sich heraus wagt – empfindlich die starren Kategorien der anderen fürchtend, die nicht auf die Einzigartigkeit jedes Selbst gehen – und sich exponiert, entsteht die Möglichkeit von Exteriorität. Und in diesem Sichtbarwerden vermag es dann auch das Selbst der Anderen um es herum zu wecken.
Ohne dieses Wagnis solcher Exteriorität bleibt nur das verarmende Nach-Hause-Gehen. Das Glück und der Reichtum, das Gold, das aus der Exteriorität kommt, hatte Levinas im Sinn, als er in Bezugnahme auf Rosenzweig nach dem zweiten Weltkrieg nach Grundlagen einer Gesellschaft suchte, die nicht auf Zugehörigkeit und Identität begründet sind.
Literatur
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit.Versuch über die Exteriorität, Freiburg 2014
Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1988
Peter Trawny: Ins Wasser geschrieben. Philosophische Versuche über die Intimität, Berlin 2013
Bild:
Ellie Harrison: Timelines (2013). In diesem Kunstwerk untersucht die Künstlerin die ambivalente Erfahrung der Selbstprotokollierung des eigenen Lebens. Vier Wochen lang notierte sie alle ihre Aktivitäten und visualisiert die verschiedenen Formen von Aktivität durch Farbflächen und erzeugt so ein Bild von Identität.