Klar, hell, ohne Grenzen, durchlässig: Transparenz ist ein Gebot der Zeit. Wir wollen ganz nah dran sein, unmittelbar, unbegrenzt, wir wollen einander nah sein, einfach so und direkt, ohne das Schützende, ohne Schleier, ohne das Opake, das undurchsichtig macht. Distanzen sollen abgebaut, Grenzen überschritten, die Differenzen aufgehoben werden. Alles soll durchsichtig sein, sodass nichts Verborgenes mehr dahinter bleibt. So sind wir eine Gesellschaft ohne Geheimnis, ohne Fremdheit, ohne Scham. Eine schamlose Gesellschaft ist, wie Byung-Chul Han es nennt, eine pornografische Gesellschaft.
So ist auch unsere Art des Wissens oft pornografisch. Die instant verfügbare Information ist unmittelbar, einfach und glatt konsumierbar. Wirkliches Wissen und Erkennen ist dagegen durch eine Innerlichkeit ausgezeichnet, es muss gegen einen Widerstand errungen werden, es ist Ereignis: Es ist etwas, das in mein Leben tritt, mich trifft und mich meint.
Eine Gesellschaft, die alle Distanz, die Schwellen abbaut und die Fremdheit abbaut, wäre letztendlich auch dazu verdammt, Sexualität verschwinden zu lassen. Denn Sexualität findet nur statt, wenn die Grenze, die zwischen mir und dem anderen – die an sich unaufhebbar da ist – überschritten werden kann. Wenn aber die Grenzen abgebaut sind, bevor sie erfahren werden können, verschwindet mit den Grenzen auch die Sexualität. So führt die pornografisierte Gesellschaft gar nicht dazu, dass viel Sexualität geschieht. Im Gegenteil. Die Statistiken zeigen das. So ist die ganze Pornografie womöglich ein viel effizienteres Mittel, um die Sexualität zum Verschwinden zu bringen, als es die mönchischen Gebote der Enthaltsamkeit oder die bürgerliche Moral je konnten.
Das Gleiche gilt für die Spiritualität. Auch Spiritualität verschwindet, wenn es keine Distanz gibt, wenn der Andere, das Andere, das Erhabene nur noch eine spiegelnde Oberfläche wie in einem polierten Kunstwerk von Jeff Koons ist, an der ich nur mich selbst sehe. So erscheint die Gesellschaft ohne Scham als eine Gesellschaft ohne Sexualität, ohne Erkenntnis und ohne Spiritualität.
Man könnte meinen, man müsste die regulierenden Kräfte der sexuellen Scham wieder herstellen, um den Verlust des Menschlichen nicht vollständig zu riskieren. Aber: es ist gerade die alte Ordnung der sexuellen Scham, die heute zerstörend wirkt. Die Fixierung auf den Versuch, sie wiederherzustellen, obwohl sie nicht mehr wirkt, umgeht und überspielt eine andere Form der Scham, die Günter Anders in der Mitte des 20. Jahrhunderts formuliert hat: die Scham als «permanent scheiternder Selbstbezug» des Menschen. Anstelle zu entdecken und zu leben, was im Scheitern von wahrer, eindeutiger Identität gefunden werden kann, entstehen heutige Formen von Gewalt, die Eindeutigkeit und Wahrheit der Identität simulieren oder erzwingen.
Ich versuche klar zu wissen, eindeutig zu erkennen, zu verstehen, wer ich bin. Und dieser Akt scheitert. Er scheitert – so Anders – grundsätzlich und er scheitert andauernd. Ich kann nicht sagen, was ich bin und was ich soll, und weder meine Mitmenschen noch meine Umwelt können es mir sagen. Es bleibt finster um mich. Ich lausche in mich hinein und es bleibt stumm. Wenn das nicht ein Ausnahmezustand ist, sondern das Scheitern des Selbstbezugs zur permanenten Lebensgrundlage, zum Lebensgefühl geworden ist, und nicht verdrängt wird, kann diese Scham eine andere Lebensform begründen.
Die Scham ist auch hier ein Grenzgefühl: sie lässt das Bewusstsein von meiner eigenen Anderheit entstehen, aber dosiert das Maß, mit dem es nach aussen tritt. Dem Schmerz und der Bodenlosigkeit, die aus diesem Grenzgefühl kommen, versucht das Bewusstsein ebenso auszuweichen, wie es Momente vermieden hat, wo die sexuelle Scham entblösst wurde. Doch anstelle dieser Scham ausgesetzt zu sein, weichen wir aus, weil deren Konsequenzen – aus der Perspektive der Normen und Werten der sexuellen Scham – als Fehler erscheinen.
Eine erste Ausweichmöglichkeit besteht darin, die Quellen dieses Sehens zu verstopfen: durch Ablenkung, durch alle Tätigkeiten, die das Bewusstsein für diese Form der Selbstreflexion betäuben, die zur Auflösung fester Identitätssehnsüchte führen würde. Es ist nicht schwer, den subtilen Schmerz zu beobachten, der durch den scheiternden Selbstbezug aufkommt sowie den reflexhaften Griff des Bewusstseins nach Mitteln, dieses Bewusstsein zu zerstreuen.
Eine zweite Möglichkeit ist es, sich für die Wahrheit des einen oder des anderen in sich zu entscheiden. Das macht das Leben wieder einfach. Entweder ich bin eben das Schreckliche, das da in mir liegt. Oder ich bin das eben alles nicht, ich bin das Reine, das Erhabene. Ich entscheide mich dann für das eine oder das andere in mir als das Eigentliche. Es grassiert ein Zwang zur Eigentlichkeit. Ich ruiniere meinen Ruf vor mir selbst und «lebe gänzlich ungeniert» oder aber ich trenne diese Seite ganz von mir ab und identifiziere es als Gegner ‹dort›, dem ich genau dies vorwerfe. Da wird gescheiterter Umgang mit der Scham zu Fundamentalismus.
Das kann sich radikalisieren: Ich kann versuchen, die Ursachen dieser Scham zu entfernen. Ich kann versuchen, einen Schnitt zu machen. Einen barbarischen Schnitt. Ich entsorge das mir andere. Ich entferne die Quellen der Scham durch Brutalität. Ich schneide die Quellen dessen, was mich stört, am anderen weg. Das ist vielfach der Ausgangspunkt sinnloser Vorsätze, radikal sich selbst durch Schnitte zu verändern, oder für den Terror, die Terrorgesellschaft, die wir sind: brutale Versuche, das, was uns wechselseitig das Andere ist, wegzuschneiden, wegzubomben, damit wir nicht in dessen Angesicht leben müssen.
Eine weitere Option ist der moraline Verbesserungsimpuls. Ich entscheide mich sogleich, das, was da auftaucht, bessern zu wollen. Ich setze an die Stelle der fragilen Seinsweise eine simulierte Verhaltensweise. Ich simuliere vor mir selbst und den anderen, dass ich ganz anders bin. Ich werde ein Schauspieler vor mir selbst. Wie oft agitieren und stellen wir uns so, dass wir voreinander nur noch die Entwürfe von uns selbst sind und erscheinen, wie wir wünschen, dass die anderen uns sehen sollen und glauben selbst daran: eine Gesellschaft der glänzenden Profile, eine Simulationsgesellschaft. Und mit diesen Scheinidentitäten überschreiben wir das Opake, das wir vor uns selbst sind.
Eine Variante davon ist die technische Optimierung: Neuro-Enhancement, Viagra und die technische Kompensationen der eigenen Unfähigkeiten: Vorsprung durch Technik. Oder Psychotechnik: überall bekommen wir Tools, Psychotechniken und Ratgeber zur Selbstoptimierung. So leben wir heute in einer Gesellschaft der simulierten Veränderung. Eine Gesellschaft, die die alte Ordnung der Scham weitgehend hinter sich gelassen hat und unter dem Bann der Scham der scheiternden Selbsterkenntnis lebt.
Die Lebensform der sexuellen Scham war aus dem normativen Wissen um Gut und Böse, vom «Baum der Erkenntnis» gespeist. Der Mensch lebt dann eingewurzelt in die Erdverhältnisse, in der Geist-Körper-Trennung, und gewinnt seine Identität durch Abgrenzung. Er rettet sich vor dem Nackten, Pornografischen durch Scham, wie sie noch Max Scheler beschreibt, Scham, die die «Isolierung der geschlechtlich empfundenden Körperzonen aus dem Ganzen der leiblich-geistigen Person» in das Ganze der Person einbindet und zurückführt.
Eine andere Lebensform ergibt sich aus jener anderen Erfahrung der Scham, die keine Identität durch Abgrenzung und Eindeutigkeit zu gewinnen vermag. Sie ist jenseits von Gut und Böse. Diese Scham als Lebensform lässt das permanente Scheitern des Selbstbezugs vor sich selbst geschehen und entdeckt, dass es sich Angesichts des Anderen dabei gar nicht verliert. Sie begründet ein offenes Leben mit dem Anderen, da es sich über dieses wie über sich wundern und vielleicht sogar freuen kann.
Vielleicht kommt diese Lebensform vom «Baum des Lebens». Jedenfalls geht sie nicht mit Abkehr vom Leben oder mit Abkehr vom Geist einher, sondern zeichnet sich durch «Oberflächlichkeit» aus: anstelle dem Zwang zum Authentischen, zum Tiefen, Innerlichen, zum Hohen, zum Niederen usw. ausgesetzt zu sein, zeigt sich dieses Leben offen und wendet sich an der äussersten Oberfläche dem Anderen hin, wie ein Antlitz. So zeichnet sie sich durch Gastfreundschaft mit dem Anderen aus, durch den Willen, dem Antlitz des Anderen exponiert zu sein: durch Exteriorität.
Bild:
Aufkleber, Bonn Hauptbahnhof, September 2011
Literatur:
Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002
Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1961
Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen, Frankfurt/M. 2015
ders.: Transparenzgesellschaft, Berlin 2012
Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 2014
Max Scheler: Über Scham und Schamgefühl. In: Max Scheler: Zur Ethik und Erkenntnislehre, Schriften aus dem Nachlass Band 1, Berlin 1933
Robin Schmidt: Scham als Hüter, in: Das Goetheanum, Nr. 33-34, 12. August 2016
Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1987