Wenn Baudrillard mit seiner These recht hatte, dass die Arbeit der Moderne eine Arbeit des «realisierens» ist, nämlich das Real-Machen alles Möglichen – (das heißt: alle Möglichkeiten auszuschöpfen und in der Realität auszuprägen, bis alle möglichen Gedanken gesagt sind, bis alle möglichen Erfindungen gemacht sind, alle möglichen Verbrechen begangen sind, alle möglichen Berufe ausgeübt und alle möglichen Partner geliebt wurden: das gibt dann die integrale Realität) – so könnte die Arbeit des Digitalen umgekehrt so beschrieben werden, alles Reale möglich zu machen.
Denn das Digitale begeistert durch seine vielen neuen Möglichkeiten: Am Display wird der eigene Leib eine Möglichkeit des darin Wohnens, jede Strasse eine Möglichkeit des Fahrens, die Biographie in real life eine Möglichkeit meines Lebens – das Subjekt ist nur eine Möglichkeit eines Ich, wie überhaupt jedes Objekt des Display eine Möglichkeit seiner Erfahrung darstellt. Die Möglichkeiten selbst werden im digitalen Leben als Wirklichkeit erfahren.
Während die Moderne also alles realisiert, zur Realie, zum Dinglichen gemacht und das dann als das Wirkliche definiert hat, besteht das digitale Leben bisher darin zu «vermöglichen», bis alles Reale den Status des Möglichen hat, bis eine integrale Möglichkeit geschaffen ist. Das gibt eine Welt ohne Eros. Das Reale, das nach Baudrillard die Moderne auszeichnet, vermag in solcher Umwertung der Werte von einer integralen Realität zu einer integralen Möglichkeit nur schwer einen Duft freizulegen, der noch betören kann, einen Blick freizulegen, der anzieht, einen Eros zu wecken, der ein Streben nach etwas in diesem Realen mit sich bringt. Dazu kommt: viele Möglichkeiten sind etwas für Enthusiasten, lassen aber keinen Eros zu etwas aufkommen.
Eine Digitalmoderne, die die Moderne fortsetzen möchte, müsste ganz eigene Formen der Kultur erfinden, an denen noch etwas ganz anderes als Wirklichkeit erfahren werden kann. Sie wird diese jenseits der modernen Wirklichkeitserfahrung entdecken müssen, die die Wirklichkeit am Subjekt (Idealismus) oder am Objekt (Materialismus) festgemacht hat und diesseits der vielen Möglichkeiten, die bisher nur aus dissoziierenden Identitäten und Bilderstürmen besteht.
Womöglich findet eine Digitalmoderne eine solche Wirklichkeitserfahrung in der Negation des Möglichen: im Un-Möglichen. Digitalmodern wäre dann die Gestaltung der Un-Möglichkeit: die Form der Fülle der Möglichkeiten, die sich selbst freiwillig aufgibt.
Diese Vision ist genauso unmöglich (utopisch), wie es die moderner Utopien waren. Doch nimmt sie diesmal die Unmöglichkeit wörtlich. Digitalmodernes Leben suchte das Unmögliche nicht als Ferne, sondern als eine Kraft der Nähe, die die vielen Möglichkeiten gegen die Un-Möglichkeit eintauscht. So wird ein digitalmodernes Leben zu einem Leben, das den Eros wiedergewinnt. Denn: «Da, wo alle Möglichkeiten unmöglich sind … ist das Subjekt noch Subjekt durch den Eros.» (Levinas: Die Zeit und der Andere, S. 59)
Bild:
Berlin Lustgarten, Berliner Verkehrsbetriebe, Mai 2016
Literatur:
Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht, Frankfurt/M. 2002 (vgl. I.3. Potenz und Recht)
Jean Baudrillard: Die Intelligenz des Bösen, Wien 2010
Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, Hamburg 2003