Ein Chamäleon, das in ein Spiegelkabinett gesetzt wird, so will ein Experiment bestätigt haben, wird grün – die Farbe, die Chamäleons in Angstzuständen annehmen. Folgt man den Erzählungen vieler Digital-Kritiker, so scheinen auch wir solche grünen, ängstlichen Chamäleons zu sein, die sich nur noch durch eine permanente 360 Grad–Spiegelung im Aussen selbst erfahren und jedweden authentischen Ausdruck verlieren.
Das Problem sitzt jedoch tiefer, da es im Digitalen eigentlich gar keine Authentizität gibt. Es fehlt schlicht die Referenz dafür. Die Logik der Dateien sagt: die Kopie ist dasselbe wie das Original. Authentizität misst sich aber am Abstand von Original und Kopie. Wenn es hier keinen Abstand gibt, weil der Unterschied irrelevant ist, dann verliert sich auch das Ideal der Authentizität. Und erst dann kann man Authentizität zum Geschäftsmodell machen, wie dies Facebook & Co getan haben. Alles ist dann gleichermassen Echt und Fake. Eine Welt jedenfalls, in dem dieser Unterschied eigentlich unerheblich für die Orientierung ist.
In dieser Welt bleibt der Blick nach Innen ergebnislos, wenn er nach einem echten, authentischen Ich sucht. So gelingt die Identitätsbildung heute nicht mehr über den Bezug zu einem eindeutigen, inneren, festen, stabilen, echten Kern. Angesichts dieser inneren Leere liegt das Selfie nah. Das Selfie ist aber kein Narzissmus, wie vielfach geglaubt wird. Narzissmus setzt einen Bezug auf einen konstanten Kern voraus, der gekränkt werden könnte. Doch dieser fehlt ja gerade. Umgekehrt: Das Selfie-Selbst bezieht seine Konstanz aus der konstant wachsenden Zahl von Zuschauern. Es ist ist eine Reflexhandlung, die jene Leere beim Blick ins Innere umgeht und mich mir jetzt von Aussen authentisch zu geben versucht. Eine Digitalmoderne müsste in der Lage sein, solche Identitätsproduktion durch den Kapitalismus der Likes umzuwenden. Sie müsste Formen der Identitätsbildung erfinden, die nicht auf Selbstbezug und innere Stabilität angewiesen sind. Wie die Chamäleons.
Denn: Biologisch gesehen, dient die Farbänderung der Chamäleons eigentlich weniger der Anpassung an die Umgebung zwecks Tarnung, sondern vor allem der Kommunikation mit Artgenossen. Hannah Arendt sagt einmal, dass Ethik darauf beruht, mit wem wir uns entscheiden zusammenzuleben. Heute hängt davon nicht nur die Ethik, sondern womöglich auch unsere Identität ab. In einer entsprechenden Weise der Identitätsbildung werden wir das, was wir sind, indem wir zuerst entscheiden, welche Farbe wir annehmen wollen, indem wir uns mit denen verbinden, deren Sein wir teilen möchten, um die entsprechende Farbe dann auch tatsächlich anzunehmen. Das Ich zeigte sich so als Wesen der Verbindung, der Freundschaft, der Welt-Bejahung, des Interesses. Identität ist dann das Resultat aktiver, gewählter Weltbeziehung (im Modus des Futur II) – und diese Bezüge teilen wir mit anderen und machen sie sichtbar.
Technisch gesehen, tut Social Media auch das. – Das Aussehen, das die Spiegel um die Chamäleons annehmen, die wir sind – das Aussehen der Welt – ist dann entweder abhängig von Spiegelung oder von Entscheidung. Beständig wählen wir zwischen beiden möglichen Formen der Chamäleon-Identität. Eine Digitalmoderne entwickelt Kulturtechniken, die zweite Form zu bevorzugen.
«Wer wollte dieses unser Chamäleon [den Menschen] nicht bewundern? […] Doch wozu trage ich dies vor? Damit wir begreifen: Wir sind geboren worden unter der Bedingung, dass wir das sein sollen, was wir sein wollen.»
Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, S. 11f.
Literatur:
Hannah Arendt: Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, München 2012
Ulrich Schnabel: Authentizität. Mein wahres Gesicht, in: Die Zeit, 28. August 2014
Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen, Stuttgart 1997
Bild:
Digitalkamera im Kaleidoskop, 2009